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Erdgas und Industrie – Wen Erdgasmangel besonders trifft

Seit Beginn des Ukraine-Kriegs wird in vielen europäischen Ländern hitzig über ein Erdgas-Embargo und damit auch über einen möglichen Erdgasmangel diskutiert. Am 27.04.2022 ist es dann soweit – Russland stellt zum ersten Mal die Erdgas-Lieferungen nach Polen und Bulgarien ein. Vor allem in Deutschland wächst seitdem die Furcht vor einer Rezession in Folge eines Lieferstopps. Erfahren Sie hier, wie gut wir gerüstet sind und welche Industrien besonders auf Erdgas angewiesen sind.

Inhaltsverzeichnis

Frieren für die Freiheit

„Frieren für die Freiheit“ – mit dieser Aussage polarisierte Joachim Gauck Anfang März 2022 im Gespräch mit Sandra Maischberger. Während ein Teil der Deutschen diese Forderung im Anbetracht der schrecklichen Bilder aus der Ukraine für durchaus gerechtfertigt halten, fürchten andere um die Sicherheit und Gesundheit besonders vulnerabler Gruppen. Erdgas wird in deutschen Haushalten überwiegend zur Wärmeerzeugung zum Heizen und für Warmwasser verwendet. Kommt es zu einem Erdgasmangel in Folge von Sanktionen oder eines Embargos drohen Lieferengpässe und damit verbunden eine drastische Erhöhung des Gaspreises. Besonders einkommensschwache Personengruppen, zu denen häufig Senioren oder alleinerziehende Eltern gehören, können diese enormen Preissteigerungen nicht mittragen.

Woher kommt unser Gas?

Deutschland fungiert beim Import und Export von Gas als Drehscheibe Europas. Insgesamt hat Deutschland im Jahr 2020 1674 TWh importiert und 814 TWh exportiert. Russland und die GUS allein lieferten rund 1121 TWh Erdgas, die restlichen Mengen kamen zu großen Teilen aus Norwegen und den Niederlanden.

Für Deutschland bedeutet das, dass rund 50% seines Erdgases aus Russland kommen. Geringere Mengen importiert Deutschland aus Norwegen (27%) und den Niederlanden (21%). Die verbleibenden Anteile produziert Deutschland selbst. Vor allem in Niedersachsen fördert der amerikanische Konzern ExxonMobil noch Erdgas: 50 TWh waren das im Jahr 2020. Eine weitere eher marginale Quelle sind Biogasanlagen. Sie lieferten 2020 immerhin 10 TWh Erdgas.

Anhand dieser Zahlen wird deutlich, dass Deutschland mit einem Verbrauch von über 940 TWh Erdgas pro Jahr weit davon entfernt ist, diesen Bedarf aus eigenen Quellen zu decken.

Erdgas wird über ein riesiges Verteilungsnetz in Deutschland und Europa verteilt.
Bildquelle: stock.adobe.com / Andreas Gruhl

Wer verbraucht am meisten Erdgas?

Die Industrie ist in Deutschland der größte Verbraucher von Erdgas. Rund 36% des verfügbaren Erdgases fließt dorthin. Knapp dahinter liegen die Haushalte, die rund 31% des Erdgases verbrauchen. Es folgen Gewerbe, Handel und Dienstleistungen mit 12% und die Stromversorgung mit rund 14%. Etwas weniger noch wird für Fernwärme benötigt (7%), während Verkehr nur mit 0,2% zu Buche schlägt.

Der Notfallplan Gas der Bundesregierung

Somit sind vor allem die Industrie und die Haushalte von Erdgas abhängig. Im Fall eines Gasembargos werden jedoch laut „Notfallplan Gas“ die geschützten Verbraucher bei der Gasverteilung bevorzugt. Bis zum Beginn des Angriffskriegs in der Ukraine galt es als nahezu undenkbar, dass die Umsetzung dieses Plans ein realistisches Szenario in Deutschland darstellt. Doch angesichts der angespannten wirtschaftlichen Lage hat Wirtschaftsminister Habeck (Bündnis 90/Die Grünen) bereits im März die Frühwarnstufe ausgerufen.  Er betont jedoch, dass die Versorgungssicherheit auf absehbare Zeit noch gewährleistet sei und es sich dabei um eine reine Vorsorgemaßnahme handle. Die Industrie ist dennoch in Alarmbereitschaft: Mehr oder minder medienwirksam ringen die Akteure großer Firmen um die Verteilung des Erdgases im Fall eines Embargos.

Warum ist Erdgas so wichtig für die Industrie?

Erdgas war für die Industrie bisher ein verlässlicher Rohstoff. Da Russland bis zum Beginn des Angriffskriegs in der Ukraine ein zuverlässiger Lieferant für Erdgas war, galt die Versorgung mit Erdgas in Deutschland lange Zeit als gesichert. Ein weiterer Bonuspunkt ist in diesem Zusammenhang das gut ausgebaute Verteilungsnetz in der EU und in Deutschland: Die 540.000km langen Leitungen in Deutschland sowie die unterirdischen Gasspeicher garantieren einen zuverlässigen Zugang zu Erdgas.

Besonders vorteilhaft ist auch eine strukturelle Eigenschaft von Erdgas: Es lässt sich gut dosieren, sodass die geforderten Temperaturen konstant und punktgenau erzeugt werden können. Gerade diese Eigenschaft macht es für Industrien, die auf bestimmte thermische Gegebenheiten angewiesen sind, sehr wertvoll.

Ganz schön heiß! Die Metallurgie benötigt viel Erdgas, um die hohen Temperaturen zu halten, die für die Herstellung und Verarbeitung von Stahl, NE-Metall und Roheisen benötigt wird.
Bildquelle: stock.adobe.com / Panksvatouny

Welche Industrien sind vor allem betroffen?

Besonders schwer würde ein Erdgas-Embargo oder ein Mangel an Erdgas Thermoprozessindustrien treffen, die im Hochtemperaturbereich arbeiten und auf Temperaturen von mehr als 500°C angewiesen sind. Das sind vor allem die Grundstoffchemie, die Papierindustrie, die Glas- und Keramikindustrie sowie Firmen, die Roheisen, Stahl und Metall erzeugen oder verarbeiten.

Die Glasherstellung: Besonders heiß

In der Glasindustrie zum Beispiel wird konstant eine Temperatur zwischen 1300°C und 1600°C benötigt. Diese Prozesswärme wird im Moment vor allem durch Erdgas erzeugt. Zur Glasherstellung werden die benötigten Stoffe wie Quarzsand, Natriumcarbonat, Pottasche und Feldspat in einer Wanne erhitzt, bis sie schmelzen und sich durch die Bewegung im Glasbad zu einer homogenen Masse vereinen. Damit die Mischung nicht aushärtet, darf die Temperatur in der Wanne nicht zu stark absinken.

Ein plötzlicher Gasstopp würde dazu führen, dass die Glasindustrie die benötigten Temperaturen nicht mehr halten kann, was ein rasches Aushärten des Glases und damit einhergehend die Zerstörung der Wannen zur Folge hätte. Eine Katastrophe für eine Branche, die sich nach der Corona-Pandemie langsam wieder erholt. Vorbeugung ist schwierig – eine kontrollierte Abschaltung ist zwar möglich, nimmt jedoch mehrere Monate Vorlaufzeit in Anspruch. Ein Wiederaufbau der Strukturen würde laut dem BV Glas Monate, wenn nicht Jahre, dauern und hätte massive Lieferengpässe für die Industrien zur Folge, die auf Glas angewiesen sind: Nahrungsmittel und Getränke können nicht mehr verpackt werden, in der Automobil- und Bauindustrie fehlen Fenster, Türen und weitere Bauteile und selbst der Pharmaindustrie würde es an Material mangeln.

Wasserstoff und Strom als Alternative zu Erdgas

Einige Firmen haben vorgesorgt und selbst bereits vor einigen Monaten oder Jahren große Gasvorräte angelegt, um im Fall ausbleibender Gaslieferung gewappnet zu sein. Andere Firmen behalten sich die Möglichkeit vor, außerhalb Europas zu produzieren, wo die Abhängigkeit von russischem Erdgas eine wesentlich geringere Rolle spielt.

In Zukunft soll Erdgas in der Glasindustrie jedoch eine zunehmend geringere Rolle spielen. Unternehmen investieren in Innovation und wollen die Wannen zukünftig zu großen Teilen mit Strom oder Wasserstoff betreiben, um unabhängiger und ökologischer zu sein. Dennoch kommt ein Erdgasmangel jetzt zu früh: Nur wenige Wannen können heute schon mit Strom betrieben werden. Wasserstoff gilt in der Industrie bisher noch als ferne Zukunftsmusik.

Thermoprozessindustrie: Bei der Glasherstellung werden punktgenaue und hohe Temperaturen benötigt, um das erwünschte Ergebnis zu erhalten.
Bildquelle: stock.adobe.com / Aikon

Welche Folgen hat das für die Baubranche?

Die Unsicherheit der Thermoprozessindustrien, den Rohstoffmangel und die Sparmaßnahmen der Unternehmen bekommen neben den Handwerksbetrieben auch die Verbraucher direkt zu spüren. Die Preise für viele Baumaterialien sind in den letzten Monaten und Jahren eklatant gestiegen. Viele kleine Handwerker, mittelständische Bauunternehmen und Branchengiganten müssen neu kalkulieren.

Im Bereich der NE-Metalle und in der Stahlindustrie sind die Preise in den letzten Jahren regelrecht explodiert. Um mehr als 50% sind die Preise für Stahl und einige NE-Metalle gestiegen, der Fensterbau berichtet von Preissteigerung jenseits der 35% – eine enorme Belastung für die Betriebe und die Verbraucher. Mit der Unsicherheit auf dem Gasmarkt und den bereits ausgesprochenen Embargos gegen Polen und Bulgarien müssen sich Industrie und Verbraucher auf einen konstant hohen Preisdruck sowie weitere Preissteigerungen und Lieferengpässe einstellen.

Firmen müssen Ihre Kunden sensibilisieren

Für Unternehmen in der Baubranche, egal ob es sich um kleine Handwerksbetriebe oder große Baufirmen handelt, ist es jetzt besonders wichtig, die Kundinnen und Kunden für die angespannte Lage zu sensibilisieren. Lange Lieferzeiten, Engpässe und weitere Verteuerungen sollten bei zukünftigen Verträgen und Projekten bereits im Vorfeld besprochen werden, um bösen Überraschungen auf beiden Seiten vorzubeugen.

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Kein Grund zur Panik

Noch möchte Deutschland keinen Abriss der Gas-Lieferungen aus Russland riskieren. Dennoch arbeiten Politik und Industrie mit Hochdruck an alternativen Lösungen. Die Politik sucht nach Lösungen, um unabhängiger von russischem Gas zu werden und sichert sich Lieferungen aus anderen Ländern. Zusätzlich soll die Infrastruktur für LNG, Flüssigerdgas, ausgebaut werden. Gleichzeitig forcieren Bund und Länder nun den Ausbau von erneuerbaren Energien, um zukünftig vor allem Strom unabhängig von anderen Ländern produzieren zu können.

Auch die Industrie möchte effektiver und unabhängiger werden. Durch moderne Prozesse können je nach Industriezweig bis zu 20% des benötigten Erdgases eingespart werden. Parallel dazu arbeiten Ingenieure an Lösungen, um die Maschinen gänzlich mit Strom, Wasserstoff oder anderen Energie-Alternativen zu betreiben.

Ein Blick in die Zukunft

Es ist unmöglich vorherzusagen, wie sich der Ukraine-Konflikt und damit einhergehend die wirtschaftlichen Konsequenzen für Europa entwickeln werden. Deutschland rüstet sich jedoch für ein mögliches Gas-Embargo, sodass es für Unternehmen und Verbraucher nicht zu tiefen Einschnitten oder gar einer Rezession durch einen Erdgasmangel kommt.

Bildquelle Header: stock.adobe.com / muratart

Quellen: